Selbstinszinierung

„[…] der Begriff „Selbstinszenierung“ [ist] in den letzten Jahren auf die autobiographische Schilderungen Schliemanns angewandt worden: er habe erlebte Ereignisse verändert, verfälscht, ja erlogen, um der Öffentlichkeit ein ganz bestimmtes Bild von sich selbst zu geben. Zwar ist die autobiographische Darstellung zunächst fast ein Jahrhundert lang für wahr gehalten worden. Man hat unbedenklich angenommen, daß sie den Tatsachen entspricht. Sie betrifft hauptsächlich zwei – miteinander zusammenhängende – Aussagenkomplexe:

–         Schliemann hat als Kaufmann ein Großkapital nur zu dem Zweck erworben, um sich seinen Jugendtraum von der Ausgrabung Trojas erfüllen zu können.

–         Bei den Ausgrabungen hat seine Frau Sophia tatkräftig mitgewirkt: seinen „Traum von Troia“ hat er nur mit ihrer Hilfe und zusammen mit ihr realisiert.

Diese Selbstaussagen Schliemanns sind seit etwa einem Jahrzehnt einer kritischen Prüfung unterworfen worden. Das Urteil der Kritiker lautet zusammengefaßt etwa so:

–         Seinen Kaufmannsberuf hat Schliemann mit leidenschaftlicher Ausschließlichkeit um des Geldes willen ausgeübt; erst 1856, auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, wandte er sich der Beschäftigung mit der Antike zu, und erst in den sechziger Jahren kamen ihm wieder Gedanken an seine Jugendpläne von Troja auf.

–         Sophia konnte ihm bei seinen Ausgrabungen gar nicht entscheidend helfen, weil sie nachweißlich nicht am Ausgrabungsort, sondern in Athen war und auch kein echtes archäologisches Interesse besaß. Daraus hat man, wiederum unbedenklich, den Schluß gezogen, Schliemann habe Tatsachen bewußt gefälscht: […]

Damit ist die Phase der bedingungslosen Anerkennung der Schliemannschen Äußerungen – ‚es ist so, wie er sagt‘ – umgeschlagen in eine Phase bedingungsloser Ablehnung: ‚er lügt‘.

Es ist nun an der Zeit, in einer dritten Phase diese hyperkritische Haltung ihrerseits auf ihre Bedingungen hin zu überprüfen.“

Mannsperger, Brigitte: „Selbstinszenierung“ Heinrich Schliemanns in der Darstellung der Mitarbeit seiner Frau Sophia, in: Hermann, Joachim (Hrsg.): Heinrich Schliemann. Grundlagen und Ergebnisse moderner Archäologie 100 Jahre nach Schliemanns Tod. Berlin 1992, S. 65f.)